DIE PHILOSOPHIE DES VEDANTA

Vortrag von Sri Chinmoy
Harvard Universität; Cambidge, Massachusetts, USA
1.März 1969

Vor dreiundsiebzig langen Jahren, an dem exakt gleichen Datum, hat der großartige spirituelle Gigant Swami Vivekananda diese Universität mit seiner erhabenen Anwesenheit voller Dynamik gesegnet, diese Universität ohnegleichen in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika. Er sprach über die Philosophie des Vedanta. Ich bin heute eingeladen, über das gleiche Thema zu sprechen. Dreiundsiebzig Frühlinge später, nennen Sie es reinen Zufall, nennen Sie es vorherbestimmte, göttliche Fügung, an diesem sowohl spirituell als auch historisch bedeutsamen Tag. Ich bin zugleich stolz als auch gesegnet, meinen bescheidenen Namen mit dem von Swami Vivekananda, einem spirituellen Helden von unermesslichem Format, in Verbindung zu bringen.
Thomas Jefferson bemerkte, als er in der Nachfolge Benjamin Franklins zum Gesandten in Frankreich ernannt wurde: „Ich folge auf ihn, niemand kann ihn ersetzen.“ Mit aller mir zur Verfügung stehender Aufrichtigkeit wage ich es weder Swami Vivekananda zu ersetzen, noch ihm nachzufolgen, als Sohn Bengalens sonne ich mich jedoch im noch nie zuvor dagewesenen Ruhm von Sri Ramakrishnas liebsten Schüler, einem einzigartigen Sohn von Mutter Bengalen.
Oh Harvard Universität, ich verrate dir eins meiner süßen Geheimnisse. Vielleicht hast du schon einmal von den königlichen bengalischen Tigern gehört. Die Angst vor diesen Tigern quälte mein kindliches Herz erbarmungslos. Oh Harvard, dein bloßer Name rief in meinen Jugendjahren in meinem Verstand die beinahe gleiche Angst hervor. Doch heute hast du zu meiner größten Überraschung eine enorme Freude in meinem Herzen ausgelöst.
Vedanta bedeutet „das Ende der Veden“; dies ist in der Tat die rein wörtliche Bedeutung. Andererseits verfügt Vedanta über ein ganzes Arsenal an zahllosen Bedeutungen; religiös, philosophisch, moralisch, ethisch, spirituell, weltlich-menschlich und Himmlisch-göttlich. Der Vedanta enthüllt die Wegweiser für eine spirituelle Pilgerfahrt – eine Pilgerfahrt zur Absoluten Wahrheit. Diese Pilgerfahrt heißt all jene willkommen, die seelenvoll nach dem Transzendentalen Brahman verlangen.
Der erdgebundene Verstand ist zu schwach, um in die Absolute Wahrheit einzutauchen. „Die Worte kehren mit dem Verstand zurück, in ihrem erfolglosen Bestreben auszudrücken, was Wahrheit ist“. Dies ist die erhabene Wahrheit, welche wir aus den Veden lernen.

„Sarvam khalvidam brahma – Wahrlich, all dies ist Brahman“. Ein wahrer Liebender Brahmans muss zwangsläufig ein Liebender der Menschheit sein. Niemals kann er mit Samuel Johnson übereinstimmen, der sagte: „Ich bin bereit, die Menschheit zu lieben, außer einem Amerikaner. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass sich die Lehren des Vedanta stets durch eine selten anzutreffende Vorurteilsfreiheit ihrer Vision auszeichnen.
Der Vedanta heißt nicht nur das reinste Herz, sondern auch einen Schurken übelster Sorte willkommen. Der Vedanta lädt jeden ein. Der Vedanta akzeptiert jeden. Der Vedanta schließt jeden mit ein. Die innere Tür des Vedanta steht nicht nur den Höchsten, sondern auch den Untersten der menschlichen Gesellschaft offen.

Indiens Shankaracharya ist der bei weitem größte Vedantin, den unsere Mutter jemals hervorgebracht hat. Zu Beginn seiner spirituellen Reise, bevor er das Bewusstsein des Absoluten Brahman erlangt hatte, plagte ein bestimmtes Gefühl von Unterscheidung seinen Verstand. Es war schwer für ihn zu glauben, das alles im Universum Brahman sei. Eines Tages, als Shankara von seinem Bad im Ganges nach Hause zurückkehrte, traf er zufällig einen Metzger – einen Unberührbaren. Der Metzger, der eine Ladung Fleisch trug, berührte Shankara zufällig, als sie aneinander vorbeigingen. Shankara wurde wütend. Seine Augen funkelten wie zwei Feuerbälle. Sein stechender Blick hätte den Metzger in ein Häufchen Asche verbrennen können. Der arme Metzger, der vom Kopf bis zu den Füßen zitterte, sprach: „Verehrter Herr, bitte sagt mir den Grund eures Ärgers. Ich stehe euch zu Dienste. Ich stehe euch zur Verfügung“.
Shankara platzte heraus: „Wie kannst du es wagen, meinen Körper zu berühren, der gerade erst im heiligsten Fluss geweiht wurde? Muss ich dich daran erinnern, dass du ein Metzger bist“?
„Verehrter Herr“, erwiderte der Metzger, „wer hat wen berührt? Das Selbst ist nicht der Körper. Ihr seid nicht der Körper. Noch bin ich es. Ihr seid das Selbst. Ich bin es ebenfalls“. Die Erkenntnis des Einen Absoluten dämmerte im armen Shankara heran. In unseren Tagen behaupten die Leute, dass der Metzger niemand anderes als Gott Shiva war, der wollte, dass Shankara praktizierte, was er predigte. Gemäß vielen war Shankara selbst ebenfalls eine Inkarnation Shivas.
Wir sollten jedoch unter keinen Umständen unseren Körper vernachlässigen, Der Körper ist der Tempel. Die Seele ist die Gottheit darin. Haben wir nicht vom Vedanta gelernt, dass die spirituellen Disziplinen im Physischen ausgeübt werden müssen?
Und siehe da, Walt Whitman klopft kräftig an unserer Herzens-Tür: „Wenn überhaupt etwas heilig ist, dann ist der menschliche Körper heilig“.
Die fünf Eckpfeiler des Vedanta sind: Das Einssein von allem Existierenden, die Göttlichkeit im Menschen, die Göttlichkeit des Menschen, Mensch – der Unendliche und Mensch der Absolute.
Der Vedanta verfügt über drei besondere Systeme: Advaita oder Nicht-Dualismus, Vishishtadvaita oder eingeschränkte Nicht-Dualität und Dvaita oder Zweiheit. Diese drei alten Systeme entwickelten drei große Anhängerschaften in Indien, welche später durch das Auftreten des Buddhismus erschüttert wurden. Der Buddhismus schüttelte den Vedischen Upanishaden Baum durch. Indien ist Shankara auf ewig dankbar für das Wiederbeleben des Nicht-Dualistischen Systems, Ramanuja für das eingeschränkt Nicht-Dualistische System, und Madhava für das Dualistische System.

SHANKARAS ADVITA ODER MONISMUS

Gemäß Shankara gibt es nur eine Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit ist Brahman. Brahman, und einzig Brahman ist die Absolute Wirklichkeit. Nichts existiert oder kann existieren ohne Brahman. Zu unserem Bedauern hat die Welt Shankara missverstanden. Er wird falsch dargestellt. Wenn man Shankara mit seinem inneren Licht studiert, erkennt man, dass Shankara niemals behauptete, dass die Welt eine kosmische Illusion sei. Was er sagen wollte, und was er tatsächlich sagte, ist dies: die Welt ist nicht und kann nicht die höchste Wirklichkeit sein.
Shankara erblickte im achten Jahr-hundert n. Chr. das Licht der Welt. In jenen Tagen war Spiritualität in Indien im Schwinden begriffen. Die indische Spiritu-alität, oder sollte ich die hinduistische Spiritualität sagen, durchlief eine starke Krise, während eine Reihe pseudoreli-giöser Sekten wie Pilze aus dem Boden schossen. Der Supreme befahl Shankaras Erscheinen auf indi-schem Boden, um diese unge-sunden Sekten zu beseitigen, und um eine Religion, die Religion der Veden, den Sanatana Dharma, die Ewige Religion, wiederherzustellen. Shankara vertrat den Monismus. Dieser Monismus ist das absolute Einssein von Universum, Mensch und Gott.
Der Buddha stahl Gottes Herz und Mitleid; Shankara Gottes Verstand und Intellekt; Sri Chaitanya Gottes Körper und Liebe; Sri Ramakrishna Gottes Seele und Vision; Swami Vivekananda Gottes Vitales und Willen.
Indiens Champion-Philosoph, Shankara, begründete die moderne Philosophie in Indien. Europas Champion-Philosoph, Spinoza, begründete die moderne Philosophie in Europa. Amerikas Champion-Philosoph, Emerson, begründete die moderne Philosophie in Amerika.
Shankaras Kevala Advaita steht über allem Dualismus. In seinem Monismus gibt es keinen Platz für relative Dinge, relative Werte, für Gegensatz-Paare, denn diese alle komme und gehen, erscheinen und verschwinden. Was ewig ist, ist das Transzendentale Brahman. „Ekam evadvitiyam – Das ist das Eine ohne ein Zweites“
Shankaras Philosophie hat sich sehr viel mit Maya befasst. Heutzutage glaubt man, Maya bedeute „Illusion“, aber die wörtliche Bedeutung ist „Messung der Ausdehnung“. Sie bezieht sich auf eine Art von Auffassungsvermögen. Wenn wir die Wahrheit mit unserem Unvermögen oder unseren sehr begrenzten Fähigkeiten verstehen und ausdrücken wollen, bietet sich Maya an und kommt uns zu Hilfe. Doch das Brahman in seiner Unendlichkeit entzieht sich unserem Auffassungsvermögen als auch unserer Ausdrucksmöglichkeit. Maya ist die Kraft, welche die Welt tatsächlich wirklich sein lässt, und gleichzeitig getrennt von Gott. Maya ist eine Kraft, eine mysteriöse Kraft, eine stets unfassbare Kraft.
Um Swami Bodhananda zu zitieren:

Shankara gesteht seine Unwissenheit bezüglich dieser Kraft, aber er sieht sie als eine Tatsache an, genau wie wir Elektrizität als Tatsache ansehen, obwohl wir nicht wissen was Elektrizität ist. Er akzeptierte Maya als eine Kraft, als eine Tatsache. Nach außen wirkend ist sie das Werden des Einen, dieses Absoluten Geistes, zu den Vielen, und nach innen gehend ist sie das Wieder-Werden der Vielen zu dem Einen. Auf diese Weise ist Maya eine ewige Kraft. Durch diese Kraft projiziert Brahman Sich selbst in den Formen von Gott, Mensch und Universum. Diese sind sowohl von Maya als auch von Brahman untrennbar.

Shankara und Vedanta werden im Laufe der Jahrhunderte immer zusammenbleiben. Sie sind wie Zwillings-Seelen.

RAMANUJAS VISHISHTADVAITA
ODER EINGESCHRÄMKTER NICHT-DUALISMUS

Gemäß Ramanuja ist die Welt wirklich, absolut wirklich, doch mangelt es ihr an Vollkommenheit. Gleichzeitig kümmert sie sich auch nicht um Vollkommenheit. Sie hat kein vorherbestimmtes Ziel. Die Welt wurde durch Gottes Inspiration erschaffen, wird durch Seine Anteilnahme erhalten und wird durch Seinen Willen auf-gelöst. Die Welt ist Gottes Spiel-platz. Er führt hier Sein „Lila“, Sein Drama auf. Dieser, Sein ewiger Sport ist Sein konstantes Voranschreiten, Sein spontaner Ausdruck in endloser Wiederkehr. Der Mensch ist wirklich. Aber er benötigt Gott unbedingt. Die Welt ist wirklich. Doch sie benötigt Gott unbedingt. Ohne Gott sind sowohl der Mensch als auch die Welt bedeutungslose Nutzlosigkeit. Der Mensch kann und wird eines Tages aus den Fängen der Unwissenheit befreit werden, und er kann nicht umhin Gott zu verwirklichen. Aber ein kleiner Unterschied wird zwischen Mensch und Gott stets bestehen bleiben. Der Mensch wird immer unterhalb Gottes bleiben, daher wird er immer Gott verehren müssen. Ramanujas Weg ist vor allem ein Weg der Hingabe. Er ist fest gegen Shankaras Theorie des unterscheidungslosen Kevala Advaita. Für ihn ist Brahman persönlich, und kann auch nur persönlich sein. Ein wahrer Strebender kann die Höchste Wahrheit verwirklichen und das unendliche Wissen erreichen, während er noch auf Erden ist.

MADHAVAS ZWEIHEIT ODER DUALISMUS

Madhavas Philosophie bedeutet die völlige Zweiheit von Brahman und dem selbst (kleinen selbst). Gott, der Mensch und die Welt haben eine permanente Existenz. Doch der Mensch und die Welt müssen einzig von Gott abhängig sein für ihre Existenz. Gott steht über dem Universum und befindet sich gleichzeitig im Universum. Gott hat einen göttlichen Körper, welcher unsere gesamte menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Nichts kann auf Erden getan werden ohne Gottes unmittelbare Anteilnahme, direkte Befürwortung, und ohne Seinen ausdrücklichen Befehl von den inneren Ebenen. Der Höchste Wille des Supreme lenkt die Welt. Er führt die Welt bis an das ihr bestimmte Ziel. Der Mensch nur dann aus den Fesseln der Unwissenheit befreit werden, wenn es der Wille des Supreme ist. Befreiung ist nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Was für die Befreiung absolut grundlegend ist, ist des Menschen liebende Verehrung Gottes.

Nun möchte ich Euch sagen, was ich über den Vedanta fühle. Sprich das Wort Vedanta nur ein einziges Mal seelenvoll. Es wird dich sofort verzaubern. Sofort wird dein Herz inspiriert, dein Bewusstsein emporgehoben und dein Leben erleuchtet.
Zu meinem Bedauern nimmt im Bewusstsein der westlichen Welt die Idee der Sünde außergewöhnlich viel Platz ein. Im Vokabular eines Vedantin existiert das Wort Sünde nicht. Was er im Inneren und im Äußeren kennt, ist eine Reihe von Hindernissen – Zweifel, Angst und Begierde. Er fühlt, dass er die Göttlichkeit in sich selbst nicht anzweifeln darf. Keiner weltlichen Angst darf er erlauben, in ihm zu entstehen. Keine Begierde – sie sie bedeutend oder unbedeutend – kann jemals das reinste Herz in ihm vernichten. Ein Vedantin neigt völlig zurecht dazu, die grund-legende Wahrheit hier, dort und überall zu sehen.
Religiöse, und besonders spirituelle Menschen, genießen eine spezielle Freude in dem Gefühl, dass sie in Gottes Welt, in einer ungeteilten Welt leben. Jeder Einzelne ist ein wahrer Bruder für sie. Das Gefühl der Bruderschaft ist in ihren alles-liebenden Herzen vorherrschend. Das Herz eines Vedantin ist völlig eins mit ihnen. Und er geht noch einen Schritt weiter. Er erklärt erhaben: „Tat tvam asi – Das bist Du“. Er sieht und fühlt jedes menschliche Wesen als Verkörperung des Absoluten Brahman.
Vedanta bedeutet Freiheit, Freiheit von Begrenzungen, Freiheit von Bindungen und Freiheit von Unwissenheit. Amerika ist das Land unvergleichlicher Freiheit. Der amerikanische Boden ist außergewöhnlich fruchtbar, so dass Gott die Wahrheit des Vedanta in grenzenlosem Maße gedeihen lassen kann. Die Freiheit des Vedanta ist die innere Freiheit. Wenn die innere Freiheit zum Vorschein kommt und die äußere Freiheit lenkt und anleitet, wird die äußere Freiheit unfehlbar und glorreich dem ihr Bestimmten Ziel entgegenlaufen. Dieses Ziel ist die Manifestation von Gottes Unendlicher Wahrheit, Frieden, Licht, Wonne und Kraft hier auf Erden. Die innere Freiheit ist die Verwirklichung des Ewigen. Die äußere Freiheit ist die Manifestation des Unendlichen. Wenn die innere und die äußere Freiheit seelenvoll und göttlich auf einer Höhe laufen, wird sich der Mensch von Heute in den Gott von Morgen verwandeln.
Ich möchte die heutige Rede mit einem Wort zu ihrem überall wertgeschätzten Studenten John F. Kennedy, beschließen. Ich möchte die heutige Rede, unsere gemeinsame Hingabe, unsere verbindende Liebe und unsere gemeinsamen Errungenschaften seinem geheiligten Andenken und seiner emporsteigenden Strebsamkeit widmen.

(Dieser Vortrag wurde in „The Philosopher, The Journal of the Philosophical Society of England“ im Frühling 1971 veröffentlicht)